Napoleon war ja eine ambivalente Figur: Einerseits hat er unsagbares Leid über Europa gebracht und war ein rücksichtsloser Machtpolitiker.
Andererseits führte er in der Schweiz und im Thurgau den "Code civile", den Vorgänger unserer Zivilgesetzbuches, das u.a. die Abschaffung des Untertanenstandes, Vorrechte von Adeligen, Folter, Todesstrafe oder Zunftzwang mit sich brachte.
Napoleon "befreite" 1798 den Kanton Thurgau aus der Untertanenschaft (der Eidgenossen übrigens!) und schuf 1803 mit der Mediation die heutige Zusammensetzung der Eidgenossenschaft mit gleichberechtigten Kantonen.
Die Freiheit verdanken wir Thurgauer also einem Franzosen, keinem Eidgenossen...
Aus diesem Buch "Napoleon und die Schweiz" zitiere ich gerne das Kapitel über den Thurgau S. 143 ff.:
Der Thurgau war seit 1460 eine Gemeine Herrschaft, die in einer Art «Museum des Spätmittelalters» aus zahlreichen geistigen und weltlichen Gerichtsherrschaften bestand. Seit Jahrhunderten war die Region ein Untertanengebiet, in dem sich verschiedene Herrschaften die Untertanen teilten. Ein Grossteil der Bauern war durch hohe Feudallasten stark verschuldet und der Lebensstandard ärmlich. Missernten und Bevölkerungswachstum machten die Lage in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts für weite Teile der Bevölkerung oftmals existenzbedrohlich. Es ist daher nur zu verständlich, dass das Gedankengut der Französischen Revolution, deren Sogwirkungen die Region erstmals im Jahr 1793 erreichten, besonders im Thurgau auf einen breiten Nährboden traf.
Der Sturm des Jahrhunderts, also die französische Armee, erreichte den Thurgau wie die übrige Schweiz im Frühjahr 1798. Zwei Tage vor dem Fall von Bern konstituierte sich am 3. März der neu geschaffene Kanton Thurgau, wobei in direktdemokratischem Prinzip erstmals in dessen Geschichte Urversammlungen einberufen und Wahlmänner bestimmt wurden. Kurioserweise fand sowohl in dieser Anfangsphase als auch während der gesamten Helvetik im Thurgau kein wesentlicher Wechsel der Eliten statt. Hierbei bildete der Thurgau innerhalb der Eidgenossenschaft eine Ausnahme, da in den anderen Orten der Schweiz meist politisch unerfahrene Bürger in die neuen Gremien gewählt wurden.
So war der neue Kanton Thurgau endgültig aus der Taufe gehoben. Am 12. April 1798 wurde der Kanton eine Verwaltungseinheit der zentralistischen Helvetischen Republik, in der die «Gesamtheit der Bürger» den Souverän stellte. Gemäss den Ideen der Aufklärung galt im neuen Staat das Prinzip der Gewaltenteilung. Oberster Beamter in Frauenfeld war ein Regierungsstatthalter der Zentralregierung; als legislatives Organ fungierte eine Verwaltungskammer, und die Judikative lag in den Händen eines Kantonsgerichts. Während der Helvetik war es für die Thurgauer Bürger und sogar für die Bürgerinnen erstmals möglich, sich mit ihren Belangen an einen hohen Beamten zu wenden, der sie ernst nahm.
Dennoch erlebten die meisten der 28'500 Einwohner die Gründungszeit ihres Kantons als wenig glücklich. Die Bevölkerung hatte die erdrückende Last Tausender französischer Soldaten zu tragen, die sie nicht nur einquartieren und verpflegen musste, sondern für die sie auch zahlreiche unbezahlte Arbeiten wie Fuhrdienste und Schanzarbeiten zu leisten hatte.
In den Kriegsjahren 1799/1800 waren die Not und der Hunger im Thurgau nahezu grenzenlos. Ein Zeitzeuge erinnerte sich: «Es war nämlich zugleich auch das Jahr 1799 das rauste und unfruchtbarste des ganzen Jahrhunderts gewesen. Ein aussergewöhnlich strenger Winter, ein nasser und kalter Frühling und grosse Beschädigungen an reben und Fruchtbäumen vernichteten alle Aussichten auf eine auch nur einigermassen ordentliche Ernte. Am ergiebigsten würde noch die Kartoffelernte gewesen sein, aber auch diese kam dem Landmann nicht zugute, da sie von den Soldaten auf den Äckern halbreif ausgerissen wurden. Und dazu gesellten sich bösartige Krankheiten bei Menschen und Vieh, die gewöhnlichen Begleiter grosser Armeen.»
Die durch den schlechten Winter, Seuchen, Einquartierung und Krieg verursachte Armut war auch im Thurgau die Hauptursache für das Scheitern der Helvetischen Republik. Hinzu kam, dass die Gehälter der Beamten aufgrund der Finanzmisere entweder verspätet oder gar nicht ausbezahlt wurden – was eine Stelle in der Verwaltung des neuen Staats alles andere als erstrebsam machte.
Als Napoleon Mitte 1802 die französischen Truppen aus der Schweiz abzog, kam es im Thurgau wie bereits 1799 zum raschen Zusammenbruch der helvetischen Behörden — allerdings erneut unter Beibehaltung eines politischen Hauptverantwortungsträgers. Der vormalige Regierungsstatthalter Johann Ulrich Sauter bildete mit sich selbst an der Spitze eine provisorische Regierung. Diese verfolgte das Ziel der Schaffung eines selbstständigen Kantons in einem föderalistischen Schweizer Staatenbund.
Tatsächlich führte Napoleons Einberufung der Mediation nach Paris dazu, dass die Absichten Sauters im Februar 1803 in weiten Teilen politische Realität wurden - der Thurgau wurde ein selbstständiger und gleichberechtigter Kanton der Eidgenossenschaft. Dank der mächtigen Unterstützung des russischen Zaren Alexander I. gelang es dem Thurgau 1814/15 auf dem Wiener Kongress, entgegen Berns Wiedereinverleibungsversuchen, seinen dauerhaften Bestand zu sichern. Die kontinuierliche Fortentwicklung des im Geist Napoleons geschaffenen modernen Staatswesens dauert bis auf den heutigen Tag an.
Die aufschlussreiche Zusammenstellung der Geschichte Ermatingen von August Mayer endet etwa ums Jahr 1800.
Für die Fortsetzung greifen wir auf die Festschrift von H. Steiger zur 500-Jahr-Feier der Zugehörigkeit des Thurgaus zur Eidgenossenschaft aus dem Jahre 1960 zurück, in der er vorerst die Arbeit von Mayer zusammenfasst, dann aber in etwas kürzerer Form die Geschehnisse des 20. Jahrhunderts festhält.
"H. Steiger, a. Lehrer" war übrigens der Vater der "Chindergartetante" Fräulein Luise Steiger, zu der noch viele von uns Ermatingern in den Kindergarten gegangen sind.
Die exponierte Lage des Dorfteils Staad hatte die fatale Folge, dass zum mindestens alle paar Jahre das Hochwasser des Sees in die Keller, Stuben und Kammern eindrang und oft wochenlang darinblieb.
Die Gefährdung der Bewohner in hygienischer Hinsicht durch Überlaufen der Dunggruben, Jauchekästen und Brunnenvergiftungen waren die schlimmen Begleiterscheinungen, die stets befürchtet werden mussten. Beim Zurückweichen des Wassers blieben die Übelstände jeweils noch lange bestehen.
Als 1795 dem Thurgau die Auflösung des Fallrechtes zugestanden wurde, war man in Ermatingen rasch zu Verhandlungen bereit, eine Ablösesumme zu vereinbaren. Die Gemeinde verpflichtet sich, auf Martini 1795 2184 Gulden bereit zu halten.
Wie sehr die Bevölkerung darauf drängte, diese uralte, verhasste Abgabe endlich loszuwerden, zeigte sich in der Bereitwilligkeit, mit der innert einer Woche von den Bürgern ihre Betreffnisse geleistet wurde, und das ungeachtet der Teuerung jenes Jahres.
Im Bürgerarchiv liegt ein Zehend-Ablösungsbuch von 1817-22, worin jedem Grundbesitzer die schuldende Auslösungssumme für eine löbliche Frühmesspfrund, wie auch löbliche katholischer Pfarrpfrund und tit. Junker Zollikofer im Hard festgesetzt sind. Die Ablösung der Gefälle des ehemaligen reichenauischen Amtes (nunmehr Staates Thurgau) fand erst 1839 statt.
Beim Ausbruch des Krieges zwischen Frankreich und Österreich-Russland wurde unsere strategisch wichtige Gegend wieder durch dauernde Einquartierungen, Requisitionen und andere Leistungen schwer belastet.
Je nach Kriegslage wechselten mehrmals die Besetzungen durch Franzosen und Österreicher. Gegen Ende des Jahres 1799 lagerten in der Stelli während mehrerer Wochen ca. 2'000 Mann französische Truppen als Beobachtungsposten gegen den Rheinübergang in Konstanz. Der Schaden, den diese Truppen durch das Schlagen des besten Nutzholzes zu Heizmaterial etc. anrichteten, wurde auf mindestens 3'000 Gulden angeschlagen.
Zudem ruinierten die französischen Soldaten im Rathaus Fenster und Mobiliar zu wohl 200 Gulden. Bis zum Ende des Krieges machten die Unkosten der Gemeinde die horrende Summe 58'965 Gulden aus.
Diese Schuldenlast hemmte die Gemeinde und machte ihr schwere Sorgen. "Gemeinde und Bürger, beiden gleichen an der Wende des Jahrhunderts einem Menschen, dessen Körperkräfte durch allzu reichlichen Aderlass erschöpft sind."
Erst 1834 gelang es, einen Tilgungsplan aufzustellen, der notgedrungen Zustimmung fand und durchgeführt werden konnte. Doch haben beide, Gemeinde und Bürger, diesen Schwächezustand mit Hilfe der Zeit überwunden.
Die bäuerliche Bevölkerung erhielt durch den Kartoffelanbau, dessen Einführung um ca. 1760 sie dem junker Zollikofer im Hard verdankte, einen neuen Impuls. Dau kamen noch bedeutende Änderungen im landwirtschaftlichen Betrieb: Aufhebung des Weideganges und der Brachfelder, Einführung der Stallfütterung und damit der Düngung.
Auch das Handwerk kam zu besseren Zeiten, die Berufsarten wurden zahlreicher. Eine Urkunde aus dem Grundstein zum Schulhause führt eine lange Reihe von Handwerken und Berufen auf, die damals ausgeübt wurden.
Die Ermatinger Handwerker und Gewrbetreibenden zeigten ihre Produkte gerne in den damals aufkommenden Gewerbeausstellungen. Meistens figurierten Ermatinger unter den Preisträgern.
Auch die damals florierende Stickerei hielt Einzug in einem dafür erstellten Gebäude (die jetzige Waagenfabrik Ammann & Co).
Über die Geschichte des Schulwesens in Ermatingen zu berichten, würde hier zu weit führen. Es sei hierüber auf meine 1954 als Festschrift verfasste Schulgeschichte verwiesen.
Die schlimmen Hungerjahre 1816/17 verursachten auch in unserer Gemeinde grossen Notstand.
In jenen Jahren zeigte sich wieder der Wohltätigkeitssinn der Familie Zollikofer im Hard, als von 250 Bürgern nur noch 90 im Stande waren, anderen etwelche Unterstützung leisten zu können.
Vom Februar bis August 1817 mussten, Anderem gar nicht zu gedenken, täglich 110-120 Personen auf dem Gemeindehaus mit Rumfordscher Suppe, die Portion zu 1/2 Mass, gespiesen werden. Die Kosten hiefür bestritt Hard während drei Tagen der Woche ganz allein, und Pfarrer und Vorsteher der schwer bedrängten Gemeinde hatten nur zu oft keinen anderen Rat als den Gang ins Hard und dessen Vorschüssen an Geld und Naturalien.
1818 erstellte die Gemeinde ein neues Gredhaus, nachdem das alte im Jahre zuvor durch Hochwasser unterspült worden und dem Abbruch verfallen war.
In jener Zeit wurde auch der Schützen- und Scheibenstand an den See verlegt. Der Grund dafür waren wohl die weiter tragenden Gewehre. Der Schützenstand war das noch jetzt bestehende Nebengebäude hinter dem Gredhaus. Der Schiebenstand wurde im See, ungefähr auf der Höhe des Hirschen, aufgerichtet.
1835 war Ermatingen Gründungs- und erster Festort des Kantonal-Schützenvereins. Die Bilder der Gründer Kantonsrat Hartmann Friedrich Amman und Prinz Louis Napoleon auf Arenenberg sind noch heute im Hirschen, der damaligen Schützenstube, zu sehen.
Weil das alte "Spitöli", das aus dem Jahr 1746 stammte, nach "neueren Ansichten" auch gar zu primitiv war, beschloss die Gemeinde 1837, ein neues und besseres zu bauen. Es ist das Haus, in dem sich heute das Restaurant zur Linde befindet.
Die Jahre 1840-55 müssen wieder schlimme gewesen sein. Ungünstige Witterung und häufige Unwetter verursachten Kulturschäden und Missernten. Besonders die Kartoffelkrankheit hatte grosse Ausfälle zur Folge. 1847 erging vom Kleinen Rathe des Thurgaus eine Aufforderung an die Gemeinden:
a) Sparküchen einzurichten
b) zur Unterdrückung des Bettels Ortswachen aufzustellen
Auch in unserer Gemeinde wurde wahrscheinlich beides nötig. Noch von 1855 liegt eine Rechnung über den Betrieb der Suppenküche im Archiv.
(hier noch als "Über- und Aussensicht" eine Beschreibung von Ermatingen durch J.A. Pupikofer):
1875 eröffnete die Nationalbahn den Betrieb. An deren Bau beteiligte sich die Gemeinde durch Übernahme eines Paketes Aktien, die aber leider nach kurzen Jahren beim Konkurs der Bahn für die Gemeinde zu einem starken Verlustposten wurden.
Mit dem Anwachsen der Bevölkerung und der Zahl der Gebäude, sowie namentlich auch im Hinblick auf die Verhältnisse im Staad, machte sich das Bedürfnis einer Wasserversorgung geltend. Das Vorhandensein ergiebiger Quellen im Bürgerwalde ermöglichte die Erstellung eines Reservoirs auf dem Drovettisberg und einer Druckleitung für Trinkwasser und Löschzwecke. Diese Anlage wurde 1897 in Betrieb genommen und ersetzte die ungefähr 30 Pumpbrunnen im Dorfe. Dieses forschrittliche Werk bildete einen würdigen Abschluss der Gemeindetätigkeit im 19. Jahrhundert.
Die landschaftliche Schönheit unserer Seegegend zog schon seit langer Zeit Besucher an, die für kurze oder lange Zeit bei uns Aufenthalt nahmen und sich sogar niederliessen. Diese Naturfreunde wählten sich für ihr Heim mit gutem Geschmack und künstlerisch geschultem Blick die schönsten Punkte zu Bauplätzen. Das führte zu starkem Ansteigen der Bodenpreise und mit der Zeit auch zu einem teilweisen Mangel an Bauland.
Als sich auch die Industrie in unserm Orte zu entwickeln begann und grössere Bauten das Dorfbild veränderten, gab es häufige Meinungsverschiedenheiten zwischen den Dorfbewohnern. Die einen sahen das Eindringen der Industrie sehr ungern, da sie fürchteten, Ermatingen werde als Fremdenort Einbusse erleiden. Die andern aber waren froh, dass sich neue Verdienstmöglichkeiten boten, weil Fischerei und Landwirtschaft im Rückgange begriffen waren.
Schon im letzten, ja auch im vorletzten Jahrhundert zogen viele junge Männer wegen mangelnder Möglichkeit, eine Existenz zu finden, in die Fremde, sei es in unsere weitere Heimat oder aber ins Ausland, sogar übers Meer. In aller Welt leben jetzt Bürger unseres Dorfes. Nicht dass sie ihre einstige schöne Jugendheimat vergässen, oft kommen sie am Feierabend ihres Lebens wieder zurück in ihr liebes, schönes Ermatingen.